Was für die Weltöffentlichkeit Butcha ist, ist für die kleine Reiterszene Lukijanivka. Am 24. März 2022, einen Monat nach der russischen Invasion, trifft ein Projektil den Stall Winged Mustang von Dressurreiterin Victoria Balyura in dem kleinen Ort bei Kiew. In einem Video, das sie auf youtube teilt, kann die Welt die Bilder sehen, die ihr ein Leben lang nicht mehr aus dem Kopf gehen werden. „Das ist Olympus, das ist Basalt und hier liegt Charoit“, hört man ihre geschockte Stimme aus dem Hintergund. Die Tiere liegen unter Trümmern, verbrannt.
Das ukrainische Ministerium für Agrarpolitik und Ernährung gibt an, dass die Anzahl der Pferde im Land allein in den Kriegsjahren 2022 und 23 um 20 Prozent zurückgegangen ist. In den besetzten Gebieten und dort, wo militärische Handlungen stattfinden, sind nahezu die Hälfte der dort lebenden Pferde ums Leben gekommen. Nur 145.000 Tiere leben heute noch in dem 600 Quadratkilometer grossen Land.
Eine Million Franken Ersthilfe
Zu Beginn jedes Konfliktes sind Interesse und die Hilfsbereitschaft gross. Der Weltreiterverband FEI stellt bereits Tage nach dem Einmarsch einen Solidaritätshilfe Fonds in Höhe von einer Million Schweizer Franken bereit. Nationale Verbände und Firmen engagieren sich ebenfalls. Innerhalb weniger Tage wird die Ukrainian Equestrian Charity Foundation gegründet, die Hilfe vor Ort organisiert und koordiniert. Sie beliefert die am stärksten betroffenen Regionen mit Heu, hilft bei der Umsiedlung von Pferden in sicherere Gebiete und sendet veterinärmedizinische Hilfe. Heute liegt die Seite brach. Der letzte Post stammt vom Februar 2023. Viele sind ins Ausland geflohen und haben ein neues Leben begonnen. Für andere ist der Krieg zum schrecklichen Alltag geworden.
Valeriia und Anastasia wohnen beide in Charkiw. Jener Millionenstadt im Osten des Landes, die einst strahlender Gastgeber der Fussball-Europameisterschaft gewesen ist und aktuell am meisten unter russischen Angriffen leidet. Beinahe täglich gibt es Tote und Verletzte zu beklagen.

Valeriia hat seit ihrer Kindheit mit Pferden zu tun. Ihr erstes Pony schenkten ihr ihre Eltern mit 12 Jahren. Die Leidenschaft fürs Reiten hat Bestand .In verantwortungsvoller Position arbeitete die heute 32-jährige in einem Ökopark, zu dem auch ein Stall mit 50 Pferden gehört. Sie geht in ihrer Arbeit auf, organisiert Sommercamps, Shows, Wanderritte, leitet Hippotherapien. Der Stall ist sozial ausgerichtet. Besonders stolz ist sie auf die Gründung des ersten Zentrums für nicht olympischen Pferdesport in der Ukraine und eines des Rehabilitationszentrum für Pferde mit psychischen und physischen Verletzungen. Sie wurden bereits seit 2014 aus den benachbarten Kriegsgebieten nach Charkiw gebracht. Denn seitdem herrscht in der Ukraine Krieg.

Auch Anastasya, oder Nastya, wie sie alle nennen, ist in Charkow geboren. Hin und wieder geht sie zum Reiten, trifft dort Freunde, wie Valeriia. Diese Zeit, sagt sie, kommt ihr vor wie ein früheres Leben. «Wir alle hatten Pläne, Träume, einen Alltag. Nichts davon gibt es mehr». In dem Leben, was es so nicht mehr gibt, waren Nastya und ihr Mann Hundetrainer.
«Die Menschen denken immer, dass der Tod das Schlimmste ist, was passieren kann, doch so ist es nicht.»
Den Tag des Angriffs erleben Valeriia und Nastay getrennt voneinander. Beide haben bis zum Schluss gehofft, dass ein solcher Horror in der heutigen Zeit nicht mehr möglich ist. Mit den ersten Explosionen waren überall Explosiosblitze zu sehen. Panik breitet sich aus. Valeriia erinnert sich, dass es ihr dringendster Gedanke war, zur Tankstelle zu fahren. Ohne Benzin würde sie nicht mehr in den Stall kommen. Die Schlange an der war riesig. Es herrschte Panik. Das gleiche Bild vor den Lebensmittelgeschäften. Viele Menschen fliehen in ihren Autos und lassen alles zurück – auch ihre Tiere. Von allen Mitarbeitern des Parks blieben nur Valeriia, der Leiterin des Kindertheaters und ein einziger Pferdepfleger. “Ich habe ihre Tapferkeit bewundert, “ sagt Valeriia. “Aber ich hatte auch Verständnis für Menschen, die anders entschieden haben.” Zu dritt bringen Sie Ihre Pferde unter Beschuss und Lebensgefahr in Sicherheit. Nastya und ihr Mann sammeln indessen all die verstörten und allein gelassenen Hunde und Katzen von den Strassen auf.

Valeriia möchte ihre Pferde in Sicherheit bringen. Aber sie muss erst auf das Einverständnis des Militärs warten. Denn der Ökopark liegt in einer Grauzone – einem Puffer zwischen russischen und ukrainischen Stellungen. Als das OK kommt, bringen sie ihre Pferde zu dritt unter Beschuss und Lebensgefahr in einen alten Stall im Wald. Insgesamt einen Monat harrt Valeriia mit ihren Pferden dort aus. Ohne Strom. Ohne Kommunikation. Ohne die Möglichkeit, sich auszuruhen. Nur mit einem kleinen Vorrat an Nahrung und Trinkwasser. Inmitten feindlicher Stellungen und unter permanenten Beschuss. “Die Menschen denken immer, dass der Tod das Schlimmste ist, was passieren kann, doch so ist es nicht." sagt sie und erklärt: “Es ist schwer für die Psyche, über einen längeren Zeitraum immer wieder Entscheidungen treffen zu müssen, die auf Kosten eines Menschen oder Tierlebens gehen könnten.” Konkreter wird sie nicht.
Als die Einschläge immer näher kamen und die Tiere immer panischer wurden, entschieden sich auch Anastasya und ihr Mann zur Flucht. Rund 200 Kilometer Luftlinie bringen Sie zwischen sich und die Front. Bilyky ist eine 4000 Einwohner Gemeinde südwestlich ihrer ehemaligen Heimat ziehen sie in ein Haus mit Grundstück. Freunde aus dem Reitstall wenden sich an sie. Freunde wie Valeriia. Ob sie nicht auch Pferde aufnehmen kann. Sie will es möglich machen.
«Die Pferde spüren, dass es ihre einzige Chance ist.»
Eine Evakuierung zu veranlassen, macht Angst. Die Pferde und Hunde spüren, dass etwas nicht stimmt. Transporteure sagen oft in letzter Minute ab. Neben der enormen psychischen Anspannung sind auch die körperlichen Strapazen nicht zu unterschätzen. Das macht es besonders schwer, ältere Pferde und Ponies in Sicherheit zu bringen. Tiere, die Nastya und Valeriia besonders am Herzen liegen. «Trotz der dramatischen Situation bleiben viele Pferde ganz ruhig, als wüsste sie, dass es ihre einzige Chance ist, ihren Rettern zu vertrauen», erinnert sich Nastya..

Unter Ihren Schützlingen sind auch Pferde, die in letzter Minute vor dem Schlachter gerettet wurden. Kein Einzelfall. Sie auf der Flucht mitzunehmen ist den Besitzern meist unmöglich. Sie zurückzulassen. Sie ihrem Schicksal zu überlassen, scheint auch keine Option. Dazu ist jeder noch so geringe Betrag auf der Flucht lebenswichtig. So treffen viele diese schreckliche Entscheidung.

«Wir wüssten, nicht wohin wir noch flüchten sollten.»
Für Nastya und ihrem Mann war er ein grosser Schritt, auch Pferde bei sich aufzunehmen und selbständig zu versorgen. Sogar einen Stall haben sie gebaut. Auch Valeriia hat zwei ihrer Pferde bei Nastya abgegeben. Für den Moment haben es alle geschafft. Die Pferde geniessen viel Freilauf und haben ausreichend Futter. Und dennoch hat sie Angst, dass der Krieg auch diese Region erreicht. «Ich wüsste nicht, wohin wir dann noch flüchten sollten.», sagt sie.